Kommt dieses Testkraftwerk in Birr als Reservekraftwerk in Frage? AZ
Der Schweiz könnte im Winter schon mittelfristig eine Stromlücke drohen, die sie dann nicht mehr mit Importen decken kann. Sieben Aargauer Grossräte bringen nun eine Gasturbinen-Testanlage in Birr ins Spiel. Könnte sie mittelfristig eine Lücke stopfen? Wir besuchten das Werk und konnten den Verantwortlichen all diese Fragen stellen.
Die Schweiz hat mittel- und längerfristig ein Stromproblem. Im Winter ist sie schon jetzt immer wieder auf Stromimporte angewiesen. Lange dachte man, die Schweiz habe Zeit, die Produktion so umzustellen, um dereinst den Wegfall der AKW auszugleichen. Doch nach dem Scheitern des Stromabkommens mit der EU und weil die EU per 2025 die Stromexporthürden erhöht, könnte der Schweiz ein echter Strommangel schon viel früher drohen.
Deshalb wird fieberhaft nach einem Ausweg gesucht, um notfalls schon 2025 zusätzliche Kapazitäten zu haben. Könnten Gaskraftwerke als Übergangstechnologie helfen? Gaskombikraftwerke stossen im Betrieb aber CO2 aus, und genau davon will man ja wegkommen.
Attiger: Wenn wir die fossilen Energien senken und dann ein Gaskraftwerk im Winter zwei Monate läuft, bleibt die Klimabilanz positiv
Gleichwohl sagte der aargauische Energiedirektor Stephan Attiger in der AZ schon im vergangenen Dezember, als Übergangstechnologie brauche man sie. Attiger sagte: «Wir müssen nicht heute entschieden, was gebaut wird. Wir müssen jedoch Optionen schaffen. Wenn wir sagen, dass der Stromimport ab 2025 nicht mehr im heutigen Ausmass gesichert und ein neues Grosskraftwerk eine Option sei, müssen wir die Planung heute schon angehen. Wenn ein Gaskombikraftwerk im Winter zwei Monate laufen würde, um die Stromlücke zu decken, und wir dafür den Verbrauch fossiler Energien insgesamt senken, bleibt die Klimabilanz positiv. Zusätzlich könnte der CO2-Ausstoss kompensiert werden.»
Birr gilt jetzt als einer von 17 möglichen Standorten in der Schweiz
Kurz nach diesem Interview reichten Grossräte aus allen Fraktionen einen Vorstoss ein (vgl. Box am Schluss des Textes), in dem sie darauf verweisen, dass im Aargau – in Birr – in Gestalt eines Testkraftwerks bereits ein Gaskraftwerk steht. Ob man nicht damit kurzzeitig Stromlücken überbrücken könnte? Die Antwort der Regierung steht noch aus. Inzwischen fand aber ein Gespräch mit den Betreibern der Versuchsanlage in Birr statt. Zudem taucht der Standort Birr inzwischen auch auf einer Karte des Bundes mit 17 möglichen Standorten für ein Gaskraftwerk als Überbrückungstechnologie auf.
Die AZ konnte das Testkraftwerk der italienischen Firma Ansaldo Energia Switzerland AG in Birr jetzt besichtigen. Derzeit findet dort keine Versuchskampagne statt. Der bisher letzte Test war 2021. Eine solche Kampagne dauert relativ kurz: «Das kann alles zwischen einer Stunde und mehrere Tage über einen Zeitraum von einigen Monaten sein», sagt Gerd Albiez, Chef von Ansaldo Energia Switzerland AG mit Sitz in Baden. Der Umbau für einen nächsten Test kann dafür drei Monate dauern.
Verschleiss bei Versuchsanlage viel grösser als im kommerziellen Betrieb
Im Durchschnitt produzierte die Gasturbine bisher während maximal 800 Stunden Strom pro Jahr. Der Verschleiss an der Testanlage ist übrigens sehr viel grösser als in einer kommerziellen Anlage «Dies, weil wir bei einem Test ans Limit gehen müssen,» sagt Albiez im mit 4000 Messstellen ausgestatteten Herz der Anlage. Fotografieren darf man hier aus Betriebsgeheimnis-Gründen nicht.
In Birr stehen zwei Gasturbinen-Testanlagen, eine ältere (GT 26), und eine neue (GT 36). Weil die bisher von Ansaldo verwendete zweistufige Verbrennungstechnologie, die in der «GT26» seit Mitte der 90er Jahre Anwendung fand, als Basis für Weiterentwicklungen diente , wurde vor Jahren schon entschieden, eine weiterentwickelte zweistufige Verbrennungstechnologie zu entwickeln, die Wirkungsgrade für – Kombikraftwerke von bis zu 65 Prozent ermöglichen und gleichzeitig weniger spezifische Investitions- und Unterhaltskosten haben, so Albiez. Die GT Testanlage in Birr ist nicht als Kombikraftwerk ausgeführt und liegt daher mit ca. 40% beim Wirkungsgrad deutlich tiefer. Ein Kombikraftwerk ist in Birr nicht geplant.
Seit 2015 wird hier die Gasturbine der neusten Generation erprobt
Ein zentrales Element der neuen Gasturbinengeneration sind heisse Verbrennungstemperaturen. Die Abgase erreichen denn auch Temperaturen von über 600 Grad Celsius. Sie werden über einen hohen Kamin (vgl. Bild) weggeblasen. Im Kamin sind Schalldämpfer eingebaut, sagt Winfried Kuhn, Head of Supply Chain AES bei Ansaldo Switzerland. Seit den späten Neunzigerjahren probt das Unternehmen unter realen Bedingungen in Birr Gas Turbinen und seit 2015 «die erste Gasturbine dieser neuen Generation».
Kernkomponente ist eine in der Schweiz entwickelte Verbrennungstechnologie, die eine hohe Effizienz bei gleichzeitig tiefen Emissionen und hoher Flexibilität im Betrieb erlaube. Die Pilotanlage mit der Testbrennkammer leistet laut Gerd Albiez etwa 330 Megawatt (MW) angebunden an das Schweizer Stromnetz.
Wenn die Testanlage voll läuft, kann sie mehr als ganz Zürich versorgen
Die Anlage liesse sich auch mit Öl betreiben, wenn es an Gas mangeln sollte. Das will hierzulande allerdings niemand. Getestet wurde es in Birr schon. Allerdings sind dabei die Emissionswerte schlechter und der Verschleiss entwicklungsbedingt höher, sagt Albiez.
Wenn «GT» 36 bei einem Test Strom produziert, wird das jeweils über die Axpo angemeldet. Das muss dann auch die Swissgrid in Aarau wissen. Denn dabei fliesst in kürzester Zeit enorm viel Strom ins Hochspannungsnetz, und zwar in Othmarsingen. Zur Veranschaulichung: Damit könnte man mehr als die ganze Stadt Zürich mit Strom versorgen.
Zum Ausgleich müssen andere Kraftwerke ihre Produktion reduzieren. Das wird jeweils vorgängig mit der Axpo in Baden abgestimmt, sagt Albiez. Muss Ansaldo womöglich gar bezahlen, wenn die Testanlage Strom einspeist? Albiez lacht: «Das nicht gerade. Aber der Strom wird an der Börse zu einem reduzierten Preis verkauft.»
Wie realistisch ist es, die Testanlage in einer Strommangellage rein für die Stromproduktion laufen zu lassen? Dafür bräuchte es Anpassungen baulicher und betrieblicher Art, sagt Albiez, denn die Anlage ist nicht auf einen kommerziellen Betrieb ausgerichtet. Machbar sei es. Es bräuchte aber ein komplett anderes Konzept.
Bei Bedarf in 30 Minuten von Standby auf Volllast
Und wie rasch wäre sie einsetzbar? Wenn die Anlage völlig stillsteht, dauert es Tage. Wenn sie hingegen inklusive Bedienmannschaft auf Standby steht, «kann sie innerhalb von ca. 30 Minuten auf Volllast hinaufgefahren werden», sagt Albiez. Möglich ist auch Teillast, wenn man gar nicht die ganze Kapazität braucht.
Was würde so eine Gasturbine auf der grünen Wiese kosten? Eine neue Anlage (ohne Bauland und Bewilligungsverfahren) käme auf rund 150 Millionen Franken zu stehen, sagt Albiez. Grundstätzlich sind Gaskraftwerke in der Anschaffung relativ günstig, aber im Dauerbetrieb wegen der Gaskosten relativ teuer. Wenn es als Reservekraftwerk betrieben werden soll, verringern sich die Kosten für das Gas dementsprechend.
Ein erstes kommerzielles Gaskraftwerk (ein Kombikraftwerk) des in Birr getesteten «GT 36» steht inzwischen in Italien vor der Inbetriebnahme. Es wird derzeit auf Herz und Nieren getestet, bevor es ans Netz geht. In Birr hält man sich derweil für weitere Testkampagnen bereit, um allfällige Kinderkrankheiten von «GT 36» auszumerzen.
Albiez und Kuhn als auch der Unterhaltsverantwortliche in Birr Felix Ruckli, sind fest überzeugt, dass es Gaskraftwerke als zur Energiewende beitragende Übergangstechnologie noch viele Jahre brauchen werde.
Das Gas wird von der Open Energy Platform AG via Pipeline bezogen
Das Gas für seine Testanlage bezieht Ansaldo von der Open Energy Platform AG mit Sitz in Zürich. Der Anschluss an die Erdgas-Pipeline, die von der Erdgas Ostschweiz AG betrieben wird, befindet sich in Birr im Werksgelände in unmittelbarer Nähe zur Turbine. Die Erdgas Ostschweiz AG betreibt und wartet das grösste Hochdrucknetz der Schweiz mit rund 630 Kilometern. Durch ihr Netz fliesst jährlich rund ein Drittel des Schweizer Bedarfs an Erdgas und Biogas. Sie bezieht ihr Gas hauptsächlich aus Russland und Norwegen.
Sorgt man sich bei Ansaldo jetzt aufgrund des Ukrainekriegs um die Verfügbarkeit von Gas? Sähen sie eine Alternative zum Bezug aus Russland? Gerd Albiez: «Ein Reservekraftwerk sollte nur zu sehr limitierten Zeiten für wenige Stunden pro Jahr betrieben werden. Das heisst es würden keine sehr grossen Mengen an Erdgas benötigt. Weiterhin könnte das Kraftwerk auch mit Öl betrieben werden. Für die Turbine, so Kuhn, spielt es jedenfalls keine Rolle, woher das Gas kommt.
Grossräte wollen wissen, ob das Test-Kraftwerk in Birr in Frage kommt
Im Januar haben Grossräte aus allen Fraktionen (Sprecher Gian von Planta/GLP) vor dem Hintergrund der Stromlücken-Diskussion eine Interpellation eingereicht. Sie verweisen darin auf das AZ-Interview mit Stephan Attiger (vgl. Hauptartikel), in dem er sich zur «Option Gaskombikraftwerke» im Aargau äusserte und meinte, dass dafür die Planung heute schon angegangen werden müsse. Die Grossräte wollen jetzt wissen, ob Attiger dabei an Gaskombikraftwerke oder an Gasturbinenanlagen denkt, die nur zur Gewährleistung der Stromversorgungssicherheit als Backup Reservekapazitäten bereitgehalten werden für den Fall einer Strommangellage? Schliesslich verweisen sie darauf, dass in Birr ein Testcenter für Gasturbinen betrieben wird. Die beiden Betreiber verfügen über eine Leistung von rund 740 Megawatt, schreiben sie im Vorstoss, was in etwa der Leistung der AKW Beznau 1 und 2 entspreche. Zudem seien diese Gasturbinen schon ans Stromübertragungsnetz angeschlossen. Die Grossräte fragen: «Kann sich der Regierungsrat vorstellen, mit den Betreibern ein Abkommen für die Nutzung dieser Anlagen als Kapazitätsreserve in den kritischen Wintermonaten abzuschliessen?» Die Antwort der Regierung steht noch aus.
Das Gas in der Schweiz stammt rund zur Hälfte aus Russland. Ist die Gasturbine in Birr noch als Reservekraftwerk denkbar? Soll man Erdgas aus Russland drosseln oder stoppen? Darüber sprachen wir mit drei der sechs Interpellanten
Grosse Speicherkapazitäten für Erdgas gebe es in der Schweiz derzeit keine, sagt Gian von Planta (GLP), Sprecher der Interpellanten. Speicher könnten aber gebaut werden, im Wallis gibt es ein Projekt, bei dem aktuell die kommerzielle Analyse läuft. Um die Abhängigkeit von Russland zu senken, sähe von Planta viele Möglichkeiten. Nebst erneuerbaren Gasen und Erdgas aus anderen Förderländern in Europa könne auch vermehrt verflüssigtes Erdgas per Schiff eingeführt werden. Erdgas gebe es grundsätzlich genug, «um dieses Kraftwerk 40 oder vielleicht 100 Stunden pro Jahr zu betreiben, quasi als Versicherung zur Überbrückung einer Winterstromlücke, bis wir genug erneuerbare Energie haben», sagt von Planta. Wenn der Preis für die wenigen Stunden oder Tage jährlich, in denen man das Kraftwerk bräuchte, deshalb höher ausfiele, wäre das sicher tragbar, meint er. Er würde in erster Linie Biogas (das ist aber nur begrenzt verfügbar) oder synthetisches Gas einsetzen und erst in zweiter Linie Erdgas.
Jeanine Glarner: Bankrotterklärung für die Energiestrategie
Mitunterzeichnerin der Interpellation ist auch Jeanine Glarner (FDP). Sie sei «aus klimapolitischen Gründen überhaupt kein Fan von Gaskraftwerken», stellt sie klar. Deren Einsatz sei «die Bankrotterklärung für die Energiestrategie – aber sie sind unsere (wohl) einzige Option, kurzfristig das Problem der Stromversorgungssicherheit zu lösen», sagt sie. Und da sei es sicher nicht falsch, ein rein technisch bereits zur Verfügung stehendes Kraftwerk zu prüfen. Bezüglich Betriebsstoff ist für Glarner klar, «dass der Betrieb möglichst mit erneuerbarem oder synthetischem Gas erfolgen muss. Alles andere ist nicht nur klimapolitisch schwierig, sondern auch betreffend Auslandabhängigkeit – wie sich jetzt mit Russland zeigt.»
Jonas Fricker: Weg von den fossilen Energien
Es sei klar, dass via fossile Energie viel Geld in autokratische Länder fliesst, etwa in den Nahen Osten oder nach Russland, sagt der Energie- und Klimaspezialist der Grünen und Mit-Interpellant Jonas Fricker: «Von den fossilen Energien müssen wir sowieso wegkommen. Wir müssen den Energieverbrauch senken, Energie effizienter nutzen, Erneuerbare viel mehr fördern und unsere Integration in die europäische Stromversorgung sicherstellen.» Der Handlungsdruck, vom russischen Erdgas wegzukommen, ist aufgrund des Krieges gestiegen, so Fricker: «Dafür brauchen wir aber dringend ein europäisch anerkanntes Herkunftsnachweissystem für Gas. Im Unterschied zum Strom weiss nämlich niemand genau, welche Qualität Gas hat und was man wirklich bekommt.» Solange es dieses Handelssystem nicht gebe, bestehe gar das Risiko, dass Biogas in Europa mehrfach verkauft wird.
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